Mittwoch, 1. April 2009

2.0 Gesellschaftskritik

Der Roman stellt nicht nur Törleß' individuelle Irritationen und Konflikte dar, sondern enthält deutliche gesellschaftskritische Aspekte. Sie beziehen sich hauptsächlich auf die autoritäre Erziehung und ihre Folgen, wie sie das "Konvikt zu W." widerspiegelt.
Bildungsziel ist die Reproduktion der gesellschaftlichen Normen: soldatische und militärische Tugenden, Fixierung auf Autoritätsgläubigkeit, Gehorsam und Pflichterfüllung.
Die meist adlige Herkunft der jungen Menschen spiegelt die Hierarchie in der Führungselite der österreich-ungarischen Monarchie wider. (Beineberg mittlerer Adel, Reiting möglicherweise hoher Adel, Törleß Großbürgertum, Basini adelig, aber wegen wirtschaftlicher Probleme im unteren Bereich der Hierarchie)
Die Abgeschlossenheit von der Gesellschaft ("kleine Stadt [...] weitab von der Residenz") begünstigt negative Entwicklungen.Dazu gehören eine repressiv-autoritäre Erziehung sowie die Nivellierung (Gleichmachung) und Unterdrückung individuellen Denkens und Empfindens.
Tabuisierung der Sexualität: Die Zöglinge werden mit ihren pubertären Problemen alleine gelassen. Die Gesellschaft gibt keine Verhaltenshilfen, sonder reagiert mit Triebkontrolle und -unterdrückung. Die Folgen: "Dort, wo die jungen aufdrängenden Kräfte hinter grauen Mauern festgehalten wurden, stauen sie die Phantasie voll wahllos wollüstiger Bilder, die manchem die Besinnung rauben" (161).
Folgen der Tabuisierung: Spaltung des Frauenbildes. Törleß sieht anfangs seine Mutter als ein völlig anderes Wesen als Bozena. Diese wird als käufliche Sache behandelt und aus der Gesellschaft ausgegrenzt, was ihre entlegene Wohnung verdeutlicht. Erst am Ende des Geschehens gelingt Törleß die Integration der beiden Bereiche und damit die Klärung seiner sinnlichen "Verwirrungen".
Ersatzhandlungen: Aggressionspotenzial in Reiting und Beineberg. Sie übertragen die an sich selbst erfahrenen Erziehungsprinzipien auf Schwächere. Daraus resultiert die sadistisch pervertierte Quälerei Basinis. Basini wird nicht mehr als Mensch, sonder als "Sache" gesehen, die zu homosexuellen Dienstleistungen gezwungen werden kann. Diese "Sache" wird am Ende von der Führungsclique den manipulierten Mitschülern ausgeliefert, wozu alle zu Mittätern werden. Basinis Versklavung, seine Misshandlung und sein Ausschluss aus der Anstalt sind Kritik an einer Gesellschaftsform, die den Menschen den Dingen gleichmacht und die auftretende soziale Konflikte als individuelle Konflikte begreift und damit privatisiert und abschiebt.
Verhalten der Lehrer: Versagen. Törleß beurteilt sie als "ältere Leute" und "lächerliche Figuren" (193), "die von den Zuständen des menschlichen Inneren [...] wenig zu wissen schienen" (193). Ironisch ist von der "ehrbar verkümmerten Erscheinung der meisten Lehrer" die Rede, mit "schmalen Schultern, mit spitzen Bäuchen auf dünnen Beinen und mitAugen, die hinter ihren Brillen harmlos wie Schäfchen weiden" (161).
Diese Harmlosigkeit zeigt sich in ihren schlichten Kommentaren während des Verhörs, als der Direktor und drei Lehrer versuchen, Törleß' Äußerungen in ihre gewohnten Kategorien einzuordnen. In dieser existentiell wichtigen Situation sind die Lehrer ihren Schülern hoffnungslos unterlegen.
Beineberg und Reiting wachsen als intelligente Drahtzieher über ihre hilflosen Erzieher hinaus, indem sie deren moralische Argumente benutzen, um sie zu täuschen. Umdrehung des Sachverhaltes. Verweisung auf Besserungsversuche: Mitleid mit einem fehlbaren jungen Menschen, "gütliche Belehrungen" und Schonungsversuche "aus den edelsten Empfindungen" heraus hätten leider keinen Erfolg gehabt, sonder zu "gemeinstem Hohn" (189) geführt. Deshalb sei es verständlicherweise zu einem "Überschäumen" (189) ihres Verhaltens gekommen.
Der Erzähler beurteilt das Geschehen als "wohlverabredete Komödie", bei der "alle ethischen Töne [...] zur Entschuldigung angeschlagen wurden, welche in den Ohren der Erzieher Wert haben" (189). Das Opfer wird zum Täter, die Täter stellen sich als Opfer dar.
Der Roman schließt pessimistisch: "In der Schule ging alles den gewohnten Gang" (197). Die Erwachsenen haben aus den Vorkommnissen nichts gelernt und sie nicht einmal begriffen. Törleß dagegen flieht aus der Welt gesellschaftlichen Handelns und Misshandelns in ein schöngeistiges, isoliertes und exklusives Künstlerdasein.
Musil hat in Beinebergs und Reitings Verhalten die sexuelle Komponente des Machttriebes verdeutlicht. Auch Törleß sieht den Zusammenhang: Er fordert Basini auf, ihm über Reitings und Beinebergs Tun "alles zu erzählen" (141). Sein Wissen über ihre sexuellen Handlungen verleiht ihm Macht über sie.
In abgeschwächter Form wird dieser Zusammenhang von Sexualität und Macht schon zu Beginn des Geschehens deutlich, als die sozial verachtete Bozena durch ihre käufliche Sexualität Macht über die adligen Zöglinge gewinnt.
Rückblickend gesehen kritisiert der Roman nicht nur das Verhalten der österreichisch-ungarischen Gesellschaft der Jahrhundertwende und ihr Erziehungssystem. Vorgeschichte der Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Methodik der Konzentrationslager.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen